Naturwissenschaftliche Reihe, Vol. 17, Darmstadt, DDD, 1998 (Dissertation, Technische Universität München, ISBN 3-931713-44-X)

Hebbsches Lernen zeitlicher Codierung: Theorie der Schallortung im Hörsystem der Schleiereule

Richard Kempter

Ausgezeichnet mit dem Neuronaler Netz Preis 1998 des German Chapter of the European Neural Network Society (GNNS).

Schleiereulen (Tyto alba) können Mäuse in völliger Dunkelheit fangen. Zur Ortung der Beute verwenden sie allein ihren Hörsinn. Dies setzt eine extrem hohe zeitliche Präzision bei der neuronalen Signalverarbeitung voraus, die von keiner anderen Spezies erreicht wird. Da die ersten Stufen des Hörsystems viele Gemeinsamkeiten mit denen anderer Vögel und Säugetiere aufweisen, bietet sich die Eule als Modellsystem an, um bisher unverstandene Fragen bei der neuronalen Verarbeitung von akustischen Signalen zu studieren.

Zur Analyse der zugrundeliegenden neurophysiologischen Prozesse wird ein Integrate-and-Fire-Modell eines spikenden Neurons im Hörsystem der Schleiereule verwendet. Untersuchungen zeigen, daß eine zeitliche Präzision von Aktionspotentialen im Bereich von einigen zehn Mikrosekunden realisiert werden kann - und dies obwohl die relevanten neuronalen Zeitkonstanten mindestens um eine Größenordnung über der so erreichten Genauigkeit liegen.

Weiterhin wird demonstriert, wie eine Hebbsche Lernregel ohne ``Lehrer'' zur nötigen Feinabstimmung der axonalen Verbindungen in der Hörbahn der Eule führt. Sie basiert auf Korrelationen zwischen einzelnen Spikes und ist wesentlicher Bestandteil eines Konzepts zeitlicher Codierung im gesamten Gehirn, nicht nur im auditorischen System. Anhand eines ``Lernfensters'' werden Eigenschaften eingehend analysiert, und begründet, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit eine geeignete Strukturbildung in Nervensystemen stattfinden kann.

In dieser Arbeit wird ein Vorschlag zur Lösung des Problems unterbreitet, wie die Eule interaurale Zeitdifferenzen im Bereich von fünf Mikrosekunden auflösen kann, obwohl die Präzision einzelner Aktionspotentiale weit darüber - im Bereich einiger zehn Mikrosekunden - liegt: Im Nucleus laminaris wird eine Transformation des zeitlichen Codes in einen Ratencode vorgenommen. Dies geschieht mittels Neuronen, die als Koinzidenzdetektoren agieren. Der am Ausgang einer Population dieser Neuronen vorliegende Ratencode enthält genug Information, um die beobachtete Verhaltensleistung der Eule erklären zu können.

Die zur Transformation nötigen Koinzidenzdetektoren sind möglicherweise fundamentale ``Bausteine'' des Gehirns zum Auslesen eines zeitlichen Codes. Um deren Effizienz im Hinblick auf diese Funktion charakterisieren zu können, wurde ihre Qualität in Abhängigkeit von neuronalen Parametern untersucht. Es wird gezeigt, wie die Qualität von Koinzidenzdetektoren kritisch von der Breite des postsynaptischen Potentials und der mittleren Input-Rate abhängt. Unkritisch dagegen ist die Position der Spannungsschwelle des Feuerns der Neuronen.

Hier werden also anhand des Modellsystems Eule beispielhaft Lösungen zu fundamentalen Fragen der zeitlichen Verarbeitung, Codierung, Repräsentation und Speicherung von akustischen Signalen entworfen, die sich auch auf andere Bereiche des Gehirns übertragen lassen. Der Schlüssel zum Verständnis liegt in der sogenannten Hebbschen Regel, die beschreibt, wie Verbindungen zwischen Neuronen ``gelernt'' werden. Dieses Schema wurde hier um die Dimension Zeit erweitert, was eine völlig neue Interpretation des neuronalen Codes erlaubt.


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